Ukraine - ein Jahr danach
06.03.2023
Jugendliche im Gespräch mit dem Friedensbeauftragten Friedrich Kramer – ein Bericht von Tobias Thiel, Studienleiter bei der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt
Die Idee vom gerechten Frieden ist angesichts des Krieges gegen die Ukraine überholt. Da sind sich Lena, Johannes, Marcus und Moritz vom Elisabeth-Gymnasiums Halle ziemlich einig. Mit Unterstützung der Ev. Akademie Sachsen-Anhalt haben die Jugendlichen den Friedensbeauftragten der Ev. Kirche in Deutschland Landesbischof Friedrich Kramer für den 24.2.23 – ein Jahr nach dem Beginn des erweiterten Kriegs gegen die Ukraine – zum Gespräch in ihre Schule, das Elisabeth-Gymnasium Halle, eingeladen.
Der gerechte Frieden im Realitäts-Check
Die Jugendlichen begründeten ihre Meinung mit der Aggression und der Vernichtungsandrohung Russlands sowie den Gräueltaten des russischen Militärs. Nur durch die Lieferung von Waffen sei die Ukraine überhaupt noch existent.
Für Kramer ist das Konzept des gerechten Friedens weiter aktuell. Nur weil sich einer nicht daran halte, sei es lange noch nicht obsolet. Pazifisten würde oft vorgeworfen, naiv zu sein. Dabei sei es doch vielmehr naiv zu glauben, dass Frieden mit Waffen geschaffen werden könne.
Im Gespräch mit Kramer zeigt Moritz in aller Ausführlichkeit, wie und wo die Idee des gerechten Friedens im Krieg gegen die Ukraine mit Füßen getreten wird. U.a. fragt er danach, welche Konsequenzen die internationale Gemeinschaft daraus ziehen müsse. Kramer erwidert, dass das Konzept des gerechten Friedens auch eine gewaltvolle Einmischung zugunsten des Rechts vorsehe. Tatsächlich gäbe es hier aber eine Leerstelle bei der Frage, wer unter welchen Bedingungen das Recht gewaltvoll durchsetzen dürfe.
Auch wenn klar sei, dass Russland der Aggressor sei, warnte er davor zu glauben, dass Waffen Frieden schaffen könnten. Frieden gäbe es nur durch Verhandlungen und da seien alle Maximalforderungen problematisch. Die Jugendlichen ließen es sich nicht nehmen, darauf zu antworten, dass schon die Forderung an die Ukraine, auf Staatsgebiet zu verzichten, völkerrechtswidrig sei.
Empathie und Solidarität mit der Ukraine
Neben den globalen, ethischen und politischen Fragen war den Jugendlichen aber auch die Empathie mit Gleichaltrigen aus der Ukraine wichtig. Als Beispiel wurde ein Video der Ev. Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung gezeigt, in dem der 18-jährige Ostap aus Lwiw berichtet, wie es zu seiner Flucht kam und wie er jetzt in Berlin Wohnzimmerkonzerte organisiert und Spenden für die Ukraine sammelt.
Für Lena seien Freiheit, Offenheit, Vielfältigkeit und Gerechtigkeit einfach die richtigen Werte, für die ihrer Meinung nach die Ukraine und der Westen eintreten würden, während Russland für Autoritarismus und Menschenrechtsverletzung stünde. In seiner Antwort warnte Kramer vor Vereinfachungen. Tatsächlich seien die Ukraine und Russland Bruderländer und in vielen Punkten vergleichbar. So gäbe es in beiden Ländern z.B. auch viel Nationalismus. Eine ukrainische Schülerin widersprach dem vehement. Sie verstünde nicht, wieso Russland und die Ukraine vergleichbar wären. Für sie sei schwarz und weiß klar.
Als letzter Impulsgeber aus dem Kreis der Jugendlichen erklärt Johannes, dass er sich mit dem Begriff der Zeitenwende schwer tue. Klimawandel, Corona, der Krieg gegen die Ukraine, eine Krise scheine sich an die andere zu reihen. Da stelle sich bei ihm ein Gefühl der Ohnmacht ein.
Kramer bestätigt das Gefühl der Ohnmacht. Demütig müsse man anerkennen, dass wir nicht auf alles Einfluss haben. Eine gute Möglichkeit, aktiv zu werden, sei es jetzt aber z.B. ganz praktisch solidarisch mit Ukrainer*innen hier und in ihrem Heimatland zu sein. Zum Abschluss rief er dazu auf, für die Ukraine und für Frieden zu beten.
Spannende, zu kurze Debatte mit offenem Ende
Die Jugendlichen waren in ihren Beiträgen sehr reflektiert, aber auch mit ganzem Herzen dabei, sprachen den Friedensbeauftragten direkt an und konfrontierten ihn mit seinen Aussagen an anderer Stelle. Mit seinen Antworten waren sie an vielen Stellen nicht zufrieden, bedankten sich aber trotzdem sehr für das offene Gespräch.
An der Diskussion nahmen fast 300 Schüler:innen aus den 10., 11. und 12. Klassen teil, die der fast zweistündigen Diskussion engagiert und auch emotional involviert folgten und sich per Mentimeter und mit Redebeiträgen einbrachten.
Nach der Diskussion nahm sich der Friedensbeauftragte noch Zeit für Nachgespräche in kleinen Gruppen. Insgesamt war es ein sehr guter Austausch zwischen den Jugendlichen und Friedrich Kramer. Angesichts der Aktualität des Themas, der emotionalen Aufgeladenheit und der Komplexität des Themas reichte die Zeit bei weitem nicht, um Antworten zu finden. Insofern ist es gut, dass eine Lehrerin und der Schulleiter gleich im Anschluss der Veranstaltung anfingen zu überlegen, wie die Auseinandersetzung mit dem Krieg gegen die Ukraine mit den Schüler:innen fortgesetzt werden kann. Dabei ist auch eine weitere Kooperation mit der Ev. Akademie Sachsen-Anhalt denkbar.
Briefwechsel mit Landesbischof Friedrich Kramer
Der Gesprächsrunde vorausgegangen war 2022 ein Briefwechsel zwischen den vier Jugendlichen und dem Landesbischof. Parallel zum Einmarsch russischer Truppen in weite Teile der Ukraine stand im Religionsunterricht der 10. Klassen das Thema „Gerechter Frieden“ auf dem Stundenplan. Aus Sicht der meisten Jugendlichen zeigen sich die Schwächen des Konzepts, wenn es einen klar zu benennenden Aggressor und einen Verteidiger gibt.
Die Vier haben daraufhin einen Brief an Friedrich Kramer geschrieben, in dem sie bekennen, dass sie noch drei Monate vorher mit seinen Äußerungen übereingestimmt hätten, der Krieg gegen die Ukraine aber ihre Vorstellungen sehr radikal geändert habe. Dabei beziehen sie sich auf ein Interview mit Friedrich Kramer, dass auf zeitzeichen.net unter dem Titel „Russland ist nicht unser Feind“ veröffentlicht wurde. Sehr kritisch sahen sie, dass Kramer dort von einem Krisengebiet sprach, obwohl es sich um den Angriff auf einen souveränen Staat handele. Aber auch seine Position, keine Waffen an die Ukraine zu liefern, lehnten sie ab. Als Gegenposition formulierten sie, dass gerade wir als Deutsche Verbrechen wie in Butcha verhindern müssten und deshalb der Ukraine jede Unterstützung zu geben sei, die sie benötige. Kramer hat auf diesen Brief geantwortet, sich für den Gesprächsimpuls bedankt, aber auch widersprochen. Aus diesem Briefwechsel entstand die Idee zur Podiumsdiskussion.
Siehe auch: Ukraine – ein Jahr danach – Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e.V. (ev-akademie-wittenberg.de) - https://ev-akademie-wittenberg.de/diskurs/ukraine-ein-jahr-danach/
Foto: Martin Scheibe